Teil 1: Einführung zum Internen Familiensystem (IFS)
Das Innere Familiensystem – kurz IFS – ist eine evidenzbasierte Form der Psychotherapie, die in den 1980er und 1990er Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Dr. Richard Schwartz entwickelt wurde. Auch wenn der Name es vermuten lässt: IFS hat nichts mit dem Familienaufstellen nach Hellinger zu tun und es handelt sich auch nicht um eine systemische Therapie im klassischen Sinne.
Schwartz stammte jedoch ursprünglich aus dem Bereich der systemischen Familientherapie. Doch bei der Arbeit mit Menschen, die an Bulimie litten, merkte er schnell, dass die damals gängigen Ansätze nicht ausreichten. In einer intensiven Therapiesitzung mit einer Betroffenen erkannte er, dass sie nicht „eine einzige Stimme“ in sich hatte, sondern verschiedene innere Anteile, die miteinander im Konflikt standen. Dieses Schlüsselerlebnis legte den Grundstein für das Modell des Inneren Familiensystems.
Heute ist IFS wissenschaftlich anerkannt und seine Wirksamkeit wurde in mehreren Studien nachgewiesen – nicht nur bei komplexen Traumafolgestörungen und PTBS, sondern auch bei Depressionen, Angststörungen und Süchten.
Die Grundannahmen von IFS
IFS basiert auf der Idee, dass jeder Mensch aus verschiedenen inneren Anteilen besteht. Diese Vielfalt ist völlig normal und bedeutet nicht, dass jemand automatisch eine multiple Persönlichkeitsstörung hat. Vielmehr geht es darum, dass unser Verstand in verschiedene Facetten unterteilt ist – und dass diese Anteile alle eine wichtige Funktion haben.
Manche Anteile können sehr hilfreich sein, andere belasten uns im Alltag, weil sie in Rollen gefangen sind, die in schwierigen Lebenserfahrungen entstanden sind. Typische Beispiele sind etwa:
• der „People Pleaser“, der es allen recht machen möchte,
• der „innere Kritiker“, der ständig Druck aufbaut,
• oder der „Pausenclown“, der mit Humor unangenehme Situationen überspielt.
Diese Rollen sind nicht die Essenz der Anteile, sondern Schutzstrategien. Wenn sie ihre „Lasten“ loslassen dürfen – etwa alte Glaubenssätze oder verletzende Erinnerungen –, verwandeln sie sich in ihre ursprüngliche, wertvolle Form: kreativ, liebevoll, spielerisch, spontan und vertrauensvoll.
Das Selbst - Der Kern des IFS
Ein zentrales Konzept im IFS ist das Selbst – mit großem „S“. Dieses Selbst ist die Essenz jedes Menschen. Es ist unversehrt, voller Mitgefühl, Neugier, Mut, Klarheit und Gelassenheit.
Die Aufgabe der IFS-Therapie besteht darin, dieses Selbst zu finden und in den Vordergrund zu rücken. Wenn wir aus unserem Selbst heraus handeln, können wir mit unseren inneren Anteilen in einen heilenden Dialog treten. Das Selbst ist sozusagen die „innere Führungskraft“, die Ordnung und Harmonie in unser inneres System bringt.
3 Hauptgruppen von Anteilen
Dr. Schwartz unterscheidet in seinem Modell drei zentrale Arten von Anteilen:
1. Exilanten
Das sind verletzte kindliche Anteile, die oft in der Vergangenheit steckengeblieben sind. Sie tragen Schmerz, Angst, Scham oder Trauer. Meistens werden sie von anderen Anteilen unterdrückt, weil ihre Gefühle überwältigend sind.
2. Manager
Manager-Anteile versuchen, das Leben so zu organisieren, dass die Exilanten nicht angetriggert werden. Typische Manager sind der innere Kritiker, der Perfektionist oder der Antreiber. Sie wollen Kontrolle und Sicherheit.
3. Feuerwehrleute
Wenn Exilanten doch aktiviert werden und ihre Gefühle nach oben drängen, treten die Feuerwehrleute in Aktion. Sie betäuben oder lenken ab – oft mit drastischen Mitteln wie übermäßigem Essen, Alkohol, Drogen, Computerspielen, exzessiver Arbeit oder riskanten Beziehungen. Ihr Ziel ist: Schnellstmögliche Ablenkung um jeden Preis.
Diese innere Dynamik führt oft zu inneren Konflikten und Polarisierungen. Während Manager Kontrolle halten wollen, bringen Feuerwehrleute alles durcheinander. Das Ergebnis: Stress, Selbstkritik, Schuldgefühle und das Gefühl, „gegen sich selbst zu kämpfen“.
Wie funktioniert IFS in der Praxis?
Das Besondere an IFS ist, dass man nicht versucht, störende Anteile loszuwerden oder zu bekämpfen, sondern mit ihnen in einen liebevollen Dialog tritt.
Ein Beispiel: Ein Klient erlebte in einer Sitzung eine Panikattacke. Viele Therapeuten hätten versucht, ihn sofort zu erden und die Attacke zu stoppen. Richard Schwartz hingegen begrüßte den Anteil, der die Panik auslöste:
„Es ist großartig, dass du hier bist. Ich verstehe, dass du große Angst hast. Du bist willkommen.“
Durch dieses Mitgefühl beruhigte sich der Anteil und konnte seine Geschichte erzählen. Schritt für Schritt ließ er seine Last los und verwandelte sich in einen ressourcenreichen Zustand.
Der Ablauf ist meist folgendermaßen:
1. Kontaktaufnahme mit einem Anteil, ohne Bewertung.
2. Zuhören und Verstehen seiner Funktion.
3. Würdigung des Schutzes, den er geleistet hat.
4. Erlaubnis erfragen, mit den verletzten Exilanten in Kontakt zu treten.
5. Belastungen („Lasten“) dürfen losgelassen werden.
6. Transformation in die ursprüngliche, gesunde Form.
Dieser Prozess ermöglicht tiefe innere Heilung und führt dazu, dass Menschen leichter, klarer und verbundener leben können.
IFS in der Anwendung: Von Therapie bis Selbsthilfe
Dr. Richard Schwartz hat in den letzten Jahren großen Wert darauf gelegt, IFS auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Neben der therapeutischen Arbeit gibt es mittlerweile:
• Selbsthilfebücher, darunter „Keine schlechten Teile“ und „Du bist die Person, auf die du gewartet hast“ (über die Rolle von IFS in Paarbeziehungen).
• Arbeitsbücher, die es ermöglichen, die Methode eigenständig zu üben.
• Programme für Führungskräfte, um innere Klarheit auch im beruflichen Kontext zu nutzen.
Studien zeigen außerdem, dass IFS nicht nur psychische Symptome lindern kann, sondern auch körperliche Erkrankungen positiv beeinflusst – etwa bei Rheuma. Menschen berichten, dass sie mehr Energie, Lebensfreude und Gelassenheit entwickeln, wenn sie mit ihren inneren Anteilen in Kontakt treten.
Warum IFS so transformierend ist
Das große Versprechen von IFS lautet: In jedem Menschen steckt ein unversehrtes Selbst voller Weisheit und Liebe.
Wenn wir lernen, mit unseren Anteilen in Kontakt zu treten, können wir alte Verletzungen heilen, innere Kämpfe auflösen und mehr Harmonie im Leben erfahren.
• Manager-Anteile dürfen loslassen und müssen nicht mehr alles kontrollieren.
• Feuerwehr-Anteile müssen nicht mehr panisch ablenken.
• Exilanten können ihre Wunden zeigen und Heilung erfahren.
Das führt nicht nur zu mehr innerer Balance, sondern auch zu besseren Beziehungen – weil wir weniger projizieren und bewusster kommunizieren.
IFS - Der Weg zur inneren Freiheit
Das Innere Familiensystem nach Richard Schwartz ist weit mehr als eine Therapiemethode. Es ist ein Modell der Transformation, das uns lehrt, mit allen Teilen in uns respektvoll umzugehen. Statt sie zu bekämpfen, laden wir sie ein, ihre Geschichte zu erzählen – und geben ihnen die Möglichkeit, in ihre ursprüngliche Kraft zurückzufinden.
IFS zeigt, dass wir nicht Opfer unserer Vergangenheit sein müssen. Im Gegenteil: Unsere verletzlichsten Anteile sind gleichzeitig unsere größten Ressourcen. Sie tragen Kreativität, Freude und Lebendigkeit in sich – wir müssen ihnen nur wieder Raum geben.
Wer sich auf diesen Weg einlässt, entdeckt:
• mehr Mitgefühl für sich selbst,
• innere Ruhe trotz äußerer Herausforderungen,
• und die Freiheit, das eigene Leben authentisch zu gestalten.
Und, wie Richard Schwartz es ausdrückt:
Es gibt keine schlechten Teile.
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